Sommeratelier 2024 mit der Künstlerin Andrea Vogel.
A)
Inwiefern kann die Verwendung gesammelter Textilien als Ausgangsmaterial für das Kunstprojekt „IM SCHUSS“ als eine Art „textile DNA“ einer Stadt betrachtet werden, und welche philosophischen Implikationen ergeben sich daraus bezüglich der Beziehung zwischen Materie, Erinnerung und Identität?
Im Schuss zu sein bedeutet umgangssprachlich unter anderem, dynamisch und gut unterwegs zu sein. Andererseits stammt der Begriff aus der Weberei, wo die Querfäden eines Gewebes als Schuss bezeichnet werden. Dies führt uns zur Thematik von Textilien und Kleidung.
Kleidung verweist immer auf den Menschen, und für das Kunstprojekt „Im Schuss“ möchte ich die Bevölkerung von Weinfelden einbeziehen. Alle, die mir ihre ausgedienten Kleider bringen, werden Teil des Projektes. Die Textilien werden in verarbeiteter Form über ihre Textur und Farbigkeit zu einem einzigartigen Material, ähnlich wie die spezifischen Eigenschaften einer DNA.
Kleidung birgt ein großes Potenzial für Assoziationen und Narrationen. Ob ein Kleidungsstück aus Naturfaser oder Synthetik besteht, ob es steif, dehnbar, glänzend, matt, gemustert oder einfarbig ist – all diese Eigenschaften strahlen etwas aus und können an unsere eigene Lebensgeschichte, die kulturelle Herkunft sowie an die globale Entwicklung erinnern.
B)
Wie beeinflusst die Novelle „Kleider machen Leute“ von Gottfried Keller das Verständnis und die Interpretation des Kunstprojekts „IM SCHUSS“, insbesondere in Bezug auf Themen wie soziale Identität, äußere Erscheinung und die Verbindung zwischen Kleidung und persönlichem Selbstbild?
In den ersten beiden Tagen der Kleidersammlung in der Remise sind bereits eine Vielzahl von Kleidungsstücken zusammen gekommen. Jedes von ihnen birgt Vergangenheit. Die Motivation hinter den Spenden und die damit verbundenen Geschichten können sehr persönlich sein.
Über die Jahre verändern sich unsere Körper und die Kleidung passt nicht mehr. Oder jemand stirbt und hinterlässt seine Kleidung den Hinterbliebenen. Oftmals ändert sich auch unser eigener Geschmack im Laufe der Zeit und deshalb passen uns bestimmte Kleidungsstücke einfach nicht mehr. Selten trennen wir uns von Kleidung, nur weil sie beschädigt und dadurch untragbar geworden ist.
Es gibt jedoch auch Kleidungsstücke, die aus spontanen Einkäufen resultieren, aber dann nie getragen werden, sowie solche, die nur für ganz besondere Anlässe angeschafft wurden. Hier wird es besonders interessant, insbesondere im Kontext der Novelle „Kleider machen Leute“. Kleidung kann uns zu einem gelungenen Auftritt verhelfen. Es gibt Situationen, in denen ein bestimmter Dresscode gefordert ist, der möglicherweise weit entfernt von unserem persönlichen Wohlfühlmodus liegt, aber dennoch ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt.
Das Wohlbefinden in unserer eigenen Haut kann durch die passende oder unpassende Kleidung noch verstärkt werden. Es existieren zahlreiche Klischees, und es ist stets heikel anzunehmen, dass man allein anhand der Kleidung eines Menschen Rückschlüsse auf seinen Beruf oder sogar seine Charaktereigenschaften ziehen kann. Toll ist, dass wir Menschen genau damit spielen können.
C)
In welcher Weise können Textilien als künstlerisches Medium betrachtet werden, und wie hat sich diese Wahrnehmung im Laufe der Zeit für dich entwickelt?
Das Eine textile Material gibt es nicht. Alles beginnt beim Rohmaterial und dessen jeweiligen Eigenschaften. Bereits Rohmaterial wie Flachs, was später zu Leinen verarbeitet wird, kann als Arbeitsmaterial dienen. So auch Fäden und Garne die in geknüpfter, gehäkelter, gestrickter, gewobener, gestickter, Form zu unendlich vielen verschiedenen Gestaltungsflächen als Grundmaterial dienen.
Die klassische Leinwand, hat als Trägermaterial längst viele, neuartige Konkurrenz erhalten. Vom Beruf der Textildesignerin herkommend, war für mich das Entwerfen und Entwickeln von textilen Flächen schon immer wichtig. Das Interesse und der Nutzen von Textilien wurde in meinem künstlerischen Schaffen mehr und mehr zum Inhalt. Dabei erfährt textiles Material über mein Einwirken eine Transformation.
In meinen aktuellsten Arbeiten, habe ich textiles, recyceltes Material verarbeitet und in meiner Atelierresidenz in Paris wurde ich zur Lumpensammlerin, als Ausgangslage. Die bereits positiv angelaufene Kollaboration mit den Kleiderspender*innen wird in Weinfelden
zu einem Kunstprojekt welches sich als Gemeinschaftswerk prozesshaft entwickeln wird. Eine soziale Skulptur sozusagen.
